Aufatmen Blog

Raum für Angehörige und Menschen mit seelischen Belastungen


Erwachsene Kinder tragen besondere Bürden

Erwachsene Kinder psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern (im folgenden Text der Einfachheit halber „EK“ genannt) haben oft schwierige seelische Bürden als Folge ihrer Kindheit zu bewältigen. Ihnen gilt ein ganz besonderer Teil meiner Therapie- und Beratungsarbeit.

Derzeit sprechen wir von nahezu drei Millionen Kindern , die in der Bundesrepublik Deutschland mit psychisch erkrankten oder suchtkranken Elternteilen aufwachsen.

Menschen, die ihre Kindheit in stabilen Familien verbracht haben, können oft nicht erahnen, geschweige denn emotional nachvollziehen, wie es in Menschen aussieht, die eine Kindheit in psychisch instabilien Familien erlebt haben. Da helfen keine einfachen Rat-Schläge wie „Komm drüber weg!“. Denn die tiefen, in der Kindheit bezogenen Wunden können schwere seelische Auswirkungen bis in das späte Erwachsenenalter haben.

Verantwortung für das emotionale Wohl aller anderen

So berichten viele EK, dass sie zuständig für die Stimmung ihrer Elternteile und nicht selten auch für die ihrer Geschwister waren. Doch angesichts einer von psychischer Krankheit oder Abhängigkeitserkrankung geprägten Umgebung waren sie der Stimmung ihrer Umgebung ausgeliefert, wurden abgewiesen oder liefen mit ihren Bemühungen ins Leere. Infolgedessen fühlten sie sich schuldig, weil sie den seelischen Ausprägungen der Krankheit nichts entgegensetzen konnten und nicht selten von ihren Angehörigen für deren Zustand verantwortlich gemacht wurden.

Die Folge ist, dass EK dazu tendieren können, in ihren Beziehungen die emotionale Verantwortung für andere zu übernehmen und das eigene seelische Wohl aus dem Auge zu verlieren. Bei vielen machen sich Schuldgefühle bemerkbar und behindern wichtige Entscheidungsfindungsprozesse wenn sie sich in ihren Beziehungen nicht ständig um andere kümmern oder gerade kümmern können.

Selbstfürsorgemangel oder gar -verbot

In einer von psychischer Krankheit oder Sucht geprägter Umgebung sind die Eltern-Kind-Rollen schnell vertauscht. Kinder erleben, wie sie Aufgaben von Erwachsenen übernehmen müssen, um Alltagserfordernisse für die Familie zu stemmen. Nicht selten werden sie dafür gescholten wenn sie etwas für sich selbst tun oder einfach Kind sein wollen. Die ganz normale Unbeschwertheit eines Kindes ging vielen EK verloren weil sie Verbots- oder Schuldgefühle gegenüber ihren Eltern oder anderen Familienangehörigen entwickelten sobald sie auch nur daran dachten, etwas für sich zu tun.

Besonders emotional abhängige bzw. coabhängige Elternteile kreisen mit ihren Gedanken eher um den psychisch erkrankten oder suchtkranken Partner. Die Kinder werden im Zuge dessen nicht selten vernachlässigt und lernen, in ihrer Rolle zu funktionieren. Das kann bedeuten, sich still oder quasi wie unsichtbar verhalten zu müssen. Dies kann auch fü ein Kind bedeuten, auf emotionaler Ebene als Partnerersatz zu fungieren. Das Kind ist dann dafür zuständig, als Ansprech- und Zuhörpartner für diesen Elternteil dazusein. Hierbei wird oft vergessen, dass die mitgeteilten Sorgen und Nöte das Kind sehr verunsichern und sein Vertrauen in die Stabilität seiner sozialen Umgebung und infolgedessen seiner späteren sozialen Umgebungen nachhaltig erschüttern. Angehörige von psychisch oder suchterkrankten Menschen können dies vermeiden, indem sie Selbsthilfegruppen besuchen, eine Beratung oder psychotherapeutische Begleitung aufsuchen, um sich selbst zu stärken und ihre Kinder zu entlasten. Hier können auch Hilfen geboten werden, Kinder im Umgang mit der häuslichen Situation zu stärken.

Leider wird vielen Kindern nicht vermittelt, dass es Hilfe gibt bzw. dass es in Ordnung ist, Kind bzw. kindlich zu sein. In schwierigen Fällen von Vernachlässigung oder Missbrauch kann es dazu kommen, dass Kindern die Fähigkeit, sich selbst etwas Gutes zu tun und die kindliche Seele zu entlasten, aberzogen bzw. verboten wird. Diese Kinder werden dazu genötigt, Verantwortung zu übernehmen, die eigentlich Erwachsenen obliegt. Hier ist es sehr wichtig, dass Abhilfe geschaffen wird und das Kind lernt bzw. darin bestätigt wird, dass es in Ordnung ist, Kind zu sein, zu spielen und sich mit seinen kindlichen Dingen zu befassen.

Ist ein Kind unter den vorgenannten schweren Bedingungen aufgewachsen, lernt es, dass es nicht in Ordnung ist, sich um sich selbst zu kümmern. Es lernt, dass es allezeit belastbar sein muss und kein Recht auf Entlastung hat.

Dies führt dazu, dass der Mensch auch als Erwachsener nicht weiss, dass er zur Selbstfürsorge berechtigt ist. Doch Selbstfürsorge ist eine wichtige Ressource wenn wir nicht ausbrennen wollen. Viele EK erlernen Selbstfürsorge – bzw. die Berechtigung zur Selbstfürsorge – erst im Zuge einer Psychotherapie. Oft müssen dort zunächst die biografischen Altlasten identifiziert und entlarvt werden, um die im Hintergrund aktiven Schuldgefühle und Denkblockaden zu lösen.

Scham und Stigma – das Mäntelchen über der Familie halten

Viele Kinder schämen sich für das merkwürdige Verhalten eines psychisch- oder suchterkrankten Elternteils. Und obendrein fühlen sich viele schuldig für ihre Scham.

Sie vermeiden es, Freunde nach Hause einzuladen und bemühen sich, die Zustände daheim in ihrem schulischen oder freizeitlichen Umfeld vor Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen zu verbergen. Hinzu kommt ihre Angst, dass bei einem Eingriff von aussen ihr Elternhaus völlig auseinanderbrechen könnte. So leiden sie im Stillen und werden Profis darin, ihr Leid oder das krankheitsbedingte Leiden, z.B.  eines abhängigkeits- oder psychisch erkrankten Familienmitgliedes oder nahestehenden Menschen zu verbergen.

So lernen diese Kinder sehr früh, dies als ihre Aufgabe anzusehen. Das widerum kann sich sehr auf das Leben im Erwachsenenalter auswirken. Erwachsene Kinder können dazu neiegen, ihre eigenen Bedürftnisse nicht ernst zu nehmen. Dies kann bis hin zur Isolation führen, leider ausgerechnet in Situationen wo das Zugehen auf andere Menschen so wichtig ist. Beispielsweise wenn man selber Hilfe benötigt. Oft sorgen dann altgelernte Schamgefühle an der falschen Stelle dafür, dass sich der Mensch lieber zurückzieht und das Leid mit sich selbst ausmacht als bereit stehende Hilfe zu akzeptieren.

Sie haben Botschaften eingeprägt bekommen wie Was sollen die Leute von uns denken? oder Uns versteht sowieso niemand oder noch schlimmer Damit machst Du alles noch schlimmer! Mit anderen Worten: Sie haben die ihnen vermittelte Hoffnungs- und Perskeptivlosigkeit sowie die kritiklose Hinnahme dieser Botschaften verinnerlicht und sind regressiv geworden.

Erwachsenen Kindern, die dies erlebt haben und heute an diesen oder ähnlichen Folgen in ihrem Leben leiden, möchte ich Mut zu sprechen. Vielleicht haben Sie den Eindruck, dass Ihnen Veränderung schwer fällt, dass die alten Muster zu tief sitzen. Aber Veränderung ist möglich. Sie sind aufgewachsen in einem ungesunden Umfeld und möglicherweise in vielen akuten Situationen. Als Kind hatten Sie aus vielerlei Gründen nicht die Möglichkeit zu hinterfragen, ob die Ihnen mitgeteilten Botschaften richtig sind bzw. der Realität entsprachen.

Diese Zeit ist vorbei. Sie haben das Recht, diese Überzeugungen in Frage zu stellen und andere, gesündere Wege zu gehen.

Sie haben das Recht, sich Hilfe zu suchen.
Sie sind nicht allein. Es gibt andere Menschen, denen es so geht wie Ihnen.
Sie haben das Recht, Menschen zu finden, die Ihnen zuhören und Sie mit Ihren Bedürftnissen ernst nehmen.
Menschen, die Sie ermutigen und begleiten auf dem Weg in die Veränderung.
Sie haben das Recht auf Veränderung.

Ihr Leben ist es wert. Sie sind es wert.

Ich werde in den nächsten Wochen in diesem Blog mehr zu Veränderungsmöglichkeiten für Erwachsene Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern schreiben.
Bleiben Sie dran!


Angehörige: Erste Schritte, zweiter Teil

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Oft wird alles Machbare in die Wege geleitet und an den Erkrankten appelliert. Natürlich möchte man den ursprünglichen gesunden Zustand des geliebten Menschen wiederherstellen.
Nicht selten wird kategorisch ausgeschlossen, dass es sich tatsächlich um eine psychische Erkrankung handelt.

Es ist richtig, sich eine zweite Meinung einzuholen und nicht die erst beste Verdachtsdiagnose hinzunehmen. Zusätzlich zur psychiatrischen Abklärung sollte stets eine medizinische Untersuchung vorgenommen werden, um nerurologische oder organische Ursachen auszuschliessen.

Besteht dann allerdings kein Zweifel mehr, dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt, machen sich bei vielen Angehörigen Gefühle der Überforderung, Ohnmacht, Enttäuschung, Ärger und mitunter Resignation breit. Das ist eine menschliche Reaktion auf einen unmenschlichen Umstand. Wohlgemerkt, nicht allen Angehörigen ergeht es so, aber vielen. Allerdings ist es wichtig, diese Gefühle nicht an dem Betroffenen auszulassen sondern spätestens dann für sich sich selbst Hilfe zu holen.

Holen Sie sich einen Experten ins Boot.

Die Erfahrung zeigt, dass es gerade für Angehörige hilfreich und entlastend sein kann, wenn sie die Ohnmacht, die Trauer, die Anspannung, das gesamte emotionale Knäuel zu einem erfahrenen Berater oder Psychotherapeuten bringen können, der sie ein Stück des Weges begleitet und dabei hilft, schwierige und mitunter verstörenden Erlebnisse mit der Erkrankung einzuordnen und ihre Gefühle ein Stück weit auffangen und Ihren mit der Krankheit im Zusammenhang stehenden Fragen zu begegnen.

Mit Dingen umgehen, die wir nicht ändern können.

Wir Menschen sind es gewohnt, Ereignisse in unserem Leben selbstständig und auf unsere eigene Art und Weise zu meistern. Wir haben gelernt, einen Schaden schnell und effizient zu beheben. Wenn ein schwieriges Ereignis außerhalb unseres Machbarkeitsbereiches eintrifft, fühlen wir uns überfordert. Erst recht, wenn es nicht uns selbst, sondern die Menschen in unserer Familie betrifft. Unsere Möglichkeiten, auf einschneidende Ereignisse im Leben eines anderen Menschen Einfluss zu nehmen, sind jedoch sehr begrenzt.

Genau aus diesem Grund beginnt der erste sinnvolle und hilfreiche Schritt in der vorliegenden Situation mit der Fürsorge für uns selbst.

Nun kann es gerade Menschen, die die Rolle der allzeit helfenden Hand in der Familie innehaben, schwerfallen, den Fokus ihrer Fürsorge zunächst einmal zurück auf sich selbst zu richten wenn der geliebte Mensch schwer erkrankt ist. Oft empfinden sie Schuldgefühle. Schuldgefühle führen jedoch nicht zu Lösungen und schwächen uns in unserer Handlungsfähigkeit.

Wir können einem anderen Menschen durchaus bei körperlichen Leiden Linderung verschaffen und auch im Gespräch unser Verständnis und Hilfe da, wo sie willkommen ist, anbieten. Wir können medizinische Versorgung, Hilfsangebote in die Wege leiten und selbst bis zu einem gewissen Grad praktische Hilfe leisten. Wir können uns jedoch nicht in den Kopf eines anderen Menschen hineinbegeben. Da psychisch erkrankte Menschen oft Widerstand gegen Hilfe aufbringen weil sie sich aufgrund der Krankheitsauswirkungen bereits in ihrer Autonomie geschwächt fühlen, macht es an dieser Stelle keinen Sinn, weiteren Widerstand zu erzeugen.

Beginnen Sie dort, wo Sie etwas verändern können.

Es gibt einen Bereich, wo wir in der Tat etwas verändern können: Bei uns.

Wenn alles getan ist und professionelle Hilfe für den Betroffenen organisiert ist, dann ist es an der Zeit sich rückzubesinnen, dass Sie ermächtigt und berechtigt sind, Ihr eigenes Leben zu stärken und für Ihre körperliche und seelische Gesundheit zu sorgen. Gerade dies ist in schweren Belastungssituationen notwendig.

Mit dem Gedanken, diese ersten Schritte in die Tat umzusetzen, haben Sie bereits begonnen, der Störung die Stirn zu bieten.

Bleiben Sie dran, immer einen Tag auf einmal.

 


Angehörige: Erste Schritte in die neue Realität

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Besonders Angehörige, die erst kürzlich damit konfrontiert wurden, dass ein nahestehendes Familienmitglied an einer psychischen Störung leidet, befinden sich zunächst in einer Art Schockzustand.

Gerade Eltern, deren jugendliche oder bereits erwachsenen Kinder betroffen sind, trifft es besonders hart wenn sie die akute Symptomatik der Erkrankung erleben.

Auch erwachsene Kinder, die ihre Eltern im akuten Zustand einer psychischen Erkrankung erleben, fühlen sich hilflos und sehen sich oft überfordert und mit vielen Fragen und Gefühlen konfrontiert.

Wenn Sie als Angehöriger gerade mit dem Erleben einer psychischen Erkrankung  konfrontiert sind, möchte ich Ihnen zunächst einmal sagen, dass Ihre Empfindungen ganz normal und in Ordnung sind. Die Beziehung zu einem Familienmitglied oder einem geliebten Menschen ist eine wichtige Ressource in unserem Leben. Auch die Sorge um die berufliche und finanzielle Existenz und nicht zuletzt auch Befürchtungen, Stigmatisierungen im gesellschaftlichen Umfeld zu begegnen, sind keine leichten Begleiter und in dieser Situation völlig verständlich.

Erste Hilfe veranlassen.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle Mut und Kraft zusprechen, die notwendigen Schritte zu veranlassen, die nun wichtig sind. Setzen Sie sich mit einem sozialpsychiatrischen Dienst oder mit einem niedergelassenen Psychiater in Verbindung. Ist die Erkrankung akut und besteht Grund zur Annahme, dass eine Eigen- oder Fremdgefährdung möglich ist, sollten Sie für eine Klinikeinweisung sorgen. Auch wenn Ihnen diese Maßnahme schwer fällt, zögern Sie bitte nicht, denn Sie sorgen für Sicherheit und eine fachärztliche Behandlung der Erkrankung.

Sie können sich durch Hinzuziehen eines sozialpsychiatrischen Dienstes oder mit Hilfe anderer Angehöriger in vielerlei Hinsicht entlasten.

Im Angesicht einer psychischen Erkrankung fühlt man sich oft allein. Auch wenn Sie viele Familienmitglieder um sich herum haben kann es sein, dass Sie sich mit ihren Gefühlen allein gelassen fühlen. Auch das ist ein normaler Umstand, weil jedes Familienmitglied seinen eigenen Weg finden muss, sich der Situation zu stellen.

Hier können sie möglicherweise Unterstützung bei den Selbsthilfegruppen des BApK (Bundesverband der Angehörigen psychisch kranker Menschen) finden und Menschen kennenlernen, die Ihre Situation verstehen und wertvolle Tipps geben können.